Eine Spaltung zu viel
Eine Spaltung zu viel
Korrupt, zunehmend autoritär, fremdenfeindlich und rückschrittlich. Das sind jene Adjektive, die im Zusammenhang mit Osteuropa benutzt werden. Für viele Politiker, Analysten und Medien ist die Osterweiterung der Europäischen Union deswegen ein Fehler. Viele Schwierigkeiten der EU, wie sie sich heute zeigt, hätten den 15 westeuropäischen Staaten erspart bleiben können, so das Urteil. Das Wiedererstarken alter Debatten um ein „Kerneuropa“ oder eine „EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ sind ein Beweis dafür. Diese Analyse mag vielen westeuropäischen Politik-Beobachtern eine tröstende Erklärung für die gegenwärtigen Krisen der Union sein, sie fundiert aber weitgehend auf Vorurteilen und Fehleinschätzungen.
Zum einen, weil viele der vermeintlichen Untugenden des Ostens keineswegs nur dort zu findende Eigenarten sind. Grassierende Korruption etwa ist auch ein definierendes Merkmal der spanischen Konservativen oder der italienischen politischen Klasse. Der migrations- und islamfeindliche Diskurs regierender Parteien in Österreich und Dänemark, aber auch in Bayern oder Flandern, unterscheidet sich nur im Nuancenbereich von den Hasstiraden eines Viktor Orbán. Die Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU scheiterte nicht nur an dem Widerstand einiger zentral- und osteuropäischer Staaten, sondern auch an der bestenfalls halbherzigen Unterstützung aus Paris oder Madrid. Vetternwirtschaft ist eine weitverbreitete Machterhaltsstrategie, in der die frankofonen Sozialdemokraten Belgiens Experten sind.
Generell sind Rechtspopulismus, EU-Feindlichkeit oder Protestbewegungen auf eine heutzutage vielerorts populäre Revolte gegen die Globalisierung zurückzuführen. Die Spaltung zwischen kosmopolitischen Großstädten und ländlichen Gegenden ist dabei viel ausschlaggebender als die Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa.
Auch verdeckt die Ost-West-Schwarz-Weiß-Malerei, dass Sofia, Bukarest oder Krakau zu den dynamischsten Metropolen Europas gehören. Das effizient verwaltete Estland ist als Vorzeigeland der Digitalisierung bekannt. Die regelmäßigen und friedvollen Proteste in Budapest, Bukarest oder Warschau, bei denen mehr EU und mehr Rechtsstaat sowie ein stärkerer Kampf gegen Korruption gefordert werden, zeugen von einer mutigen Zivilgesellschaft. Davon könnten sich manche westeuropäische Gesellschaften so einiges abschauen.
Trotz allem ist es gefährlich, in eine Art von Relativismus zu fallen. Die autoritären Neigungen in Ungarn, Polen, Bulgarien oder Rumänien sind zu verurteilen. Es wäre allerdings falsch zu glauben, dass man dieses Problem lösen könnte, indem man EU-Fördergelder einfach an die Einhaltung rechtstaatlicher Prinzipien bindet, wie in Brüssel nun erwogen wird. Dadurch wird die falsche und schädliche Ansicht zementiert, wonach reiche und tugendhafte Westeuropäer arme und korrupte Osteuropäer für Weiterentwicklungen belohnen. Ähnliche Denkmuster führten zur gegenwärtigen Nord-Süd-Spaltung in der EU, die jede sinnvolle Reform der Währungsunion unmöglich macht, weil alle Fronten zu verhärtet sind.
Sinnvoller wäre es dagegen, das Brüsseler Geld weiterhin fließen zu lassen. Nur sollte es nicht in die Taschen jener Politiker landen, die den Rechtsstaat aushöhlen, die Medien kontrollieren und sich eine loyale Anhängerschaft durch Postengeschacher kaufen. Dafür ist eine flexiblere und intelligentere Geldverteilung notwendig. NGOs, Schulen, Spitäler, Rechercheinstitute müssen viel direkter finanziert werden. Das könnte auch die massenhafte Emigration junger Talente, das wohl größte Problem Osteuropas, bremsen.
diego.velazquez@wort.lu
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