Die Zeitenwende ist gar keine - sondern ein langer Wandel
Die Zeitenwende ist gar keine - sondern ein langer Wandel
Von Cornelie Barthelme (Berlin)
Olaf Scholz hat es nicht leicht, so viel steht fest. Außer seiner Frau Britta Ernst kommt niemand auf die Idee, ihm eine ausgeprägte Einfühlungsgabe zu bescheinigen. Und selbst wenn man es will: Ihm Gefühlsregungen zu entlocken oder ihn auch nur bei einer einzigen zu ertappen in aller Öffentlichkeit - so gut wie unmöglich. Insofern startet der Bundeskanzler am Donnerstagmorgen im Bundestag mit einer dicken Überraschung in seine „Zeitenwende“-Rede Nummer 2, eine erste Bilanz. Er zitiert aus dem Kriegstagebuch der ukrainischen Schriftstellerin Yevgenia Belorusets, in dem taggenau vor einem Jahr von Explosionen russischer Bomben zu lesen ist, von der Angst um sich selbst und „die Menschen, die ich liebe“. Auch das letzte Wort kommt Scholz stolperfrei über die Lippen. Und dann liest er noch vor, wie Belorusets vom Kriegsende träumt, am siebten Tag des russischen Überfalls, und aber weiß: „Jetzt ist die Zeit, tapfer zu handeln und gegen den Aggressor starke, wirksame Mittel zu finden.“
Wäre eine Regierungserklärung ein literarischer Text - dann könnte Scholz jetzt aufhören, weil alles gesagt ist. Den Rest dürfte sich das Publikum hinzudenken, hineininterpretieren oder auch heraushören. Beispielsweise, dass er das genauso sieht wie die Schriftstellerin Belorusets: Jetzt muss Wladimir Putin, der Aggressor, gestoppt werden.
Derzeit keine Hoffnung auf friedliche Lösung
Oft ist das bei Scholz auch genau so zu erleben - obwohl er ja ein Politiker ist, und also auch ein politischer Redner. Er sagt nur das Nötigste, bleibt gern im Vagen. Für sein Publikum ist das ein Problem. Für ihn ist es perfekt. Er will die Gefahr minimieren, dass, was er sagt, aus dem Zusammenhang gerissen wird - und dann vielleicht gegen ihn verwendet. Er hasst selbst das kleinste Risiko.
Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln - außer über die eigene Unterwerfung.
Olaf Scholz
Das zugrunde gelegt, wird der Kanzler an diesem Morgen sehr klar: Die Alternative – Waffen oder Diplomatie – gibt es nicht. Nichts spricht dafür, dass Putin derzeit überhaupt verhandeln will. Wann und unter welchen Voraussetzungen konferiert werden kann, wird in Kiew entschieden. Im Übrigen: „Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln - außer über die eigene Unterwerfung.“
Im Scholz’schen Maßstab ist das schon Pathos. Und gehört zu einem von zwei Kernen seines Vortrags: Dass seine Regierung - und also auch er - der Ukraine nicht leichtfertig Waffen liefere, „niemals“. Der andere definiert die Lehre aus zwei von Deutschland verursachten Weltkriegen neu. Scholz nimmt dem „Nie wieder“ das in Deutschland so lange und so selbstverständlich hinzugefügte „Krieg“ - und differenziert: „Unser ,Nie Wieder‘ bedeutet, dass der Angriffskrieg niemals zurückkehrt als Mittel der Politik.“
Das ist, nicht bloß im Scholz-Maßstab, historisch. Es fällt nur - weil halt im Scholz-Ton vorgetragen - erst einmal nicht auf. Genau verstanden aber erklärt der Bundeskanzler hier öffentlich den Rückzug vom Rückzug Deutschlands in die innere Emigration nach 1945. Er stellt das wiedervereinte Deutschland nach gut 32 Jahren als nicht mehr nur verhandelnden, sondern als auch handelnden Akteur in den Konflikten der Welt auf - selbst dann, wenn Krieg dafür die wirklich treffende Bezeichnung ist.
Opposition fordert mehr Details
Das bedeutet auch: Die Zeitenwende ist gar keine - sondern ein langer Wandel. Kann gut sein, dass der Ärger noch kommt für Scholz. Im Bundestag reagiert niemand. Zu sehr giert die Opposition nach einer Ausgabebilanz für die 100 Bundeswehr-Milliarden, und weil es die nicht gibt, nach einer Entschuldigung, dass die Truppe nach einem Jahr womöglich noch mieser dasteht - weil sie mit ihrem Gerät ja die Ukraine unterstützt. Geld zählen ist angesichts der hochkomplizierten Lage der Welt immer noch das Einfachste. Oder stur, wie die AfD, darauf zu beharren: „Es ist nicht unser Krieg.“
Es gibt Situationen, in denen Widerstand die Rettung bedeutet.
Zitat aus Yevgenia Belorusets Tagebuch
Scholz hat erkannt, dass er es ist. Und nun an mehr zu denken ist als an neue Lieferanten für Gas und für Öl. Wann hat sich je ein Kanzler an den chinesischen Machthaber gewandt, im Parlament, direkt? „Nutzen Sie Ihren Einfluss in Moskau“, sagt Scholz.
Er schließt in Berlin mit einem Zitat aus Yevgenia Belorusets Tagebuch: „Es gibt Situationen, in denen Widerstand die Rettung bedeutet.“ Und fügt an: „Wie recht sie hat.“ Nicht erst in diesem Moment ist die Rede des Kanzlers größer, als sie aufs erste Hören scheint.
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