Die richtigen Lehren aus der Vergangenheit ziehen
Die richtigen Lehren aus der Vergangenheit ziehen
Von Claude Radoux *
Groß war der Schock für die Menschen in der Ukraine und auch im Rest Europas, als am frühen Morgen des 24. Februars erste Bomben auf Kiew, Charkiw und andere Städte fielen. Raketen und Bombenalarm waren begleitet von den Nachrichten des ersten Vorrückens der russischen Truppen am Boden. Für viele war es eine Überraschung, für andere war es die Bestätigung dessen, was sie seit 2014 erkannt hatten: Wladimir Putin strebt ein Wiederauferstehen der Sowjetunion an, nicht so sehr vom Leninismus-Sozialismus getrieben als vielmehr von großrussischem Nationalismus und Stalinismus. Andere hatten es bereits beim russischen Einfall in Georgien 2008 geahnt. Angekündigt hatte Putin seine Weltanschauung in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007.
Nach der Besatzung der Krim durch die sogenannten „grünen Männchen“, welche Ende Februar 2014 erschienen und kurze Zeit später mit Maschinengewehren im regionalen Parlament die Abstimmung über den Beitritt der Krim zu Russland bewachten, hatte es aus dem demokratischen Europa sehr wenige Gegenstimmen gegeben. Weder die von Russland organisierten Revolten im Donbass noch der Abschuss des Passagierflugzeugs der Malaysia Airlines im Juli 2014 hat zu klaren Aussagen der EU oder der NATO geführt.
Dieses Stillschweigen, teilweise fast als Billigung zu verstehen, hat den Verlauf der Geschichte ohne Zweifel zulasten einer freien Ukraine beeinflusst.
Den politischen Verantwortlichen aus dieser Zeit kann man schwerwiegende Entscheidungsfehler vorwerfen. Aber nicht nur die Politik hat versagt. Die Vertreter der Wirtschaft sind ausschließlich dem merkantilistischen, kommerziellem Nutzen nachgelaufen. Die Zivilgesellschaften in vielen Ländern haben sich in Wohlgefallen geübt und haben die russische Propaganda kritiklos geschluckt.
„Zeitenwende“
Der 24. Februar 2022 hat schließlich alle vor ihre Verantwortung gestellt. Das ukrainische Volk hat nicht gezögert und hat zu den Waffen gegriffen. Frauen und Kinder wurden in Sicherheit gebracht, die Männer gingen mit den Verteidigungskräften zurück in ihre Städte und Dörfer an die Front. Die EU ist ebenfalls erwacht und hat zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler die „Zeitenwende“ angekündigt.
Rückblickend kann man sagen, dass die Reaktionen anfangs zu zaghaft waren, teilweise deshalb, weil niemand der Ukraine zutraute, sich länger als ein paar Tage oder Wochen zu halten. Hier darf man feststellen, dass nicht nur Putins Geheimdienst versagt hat in seiner Einschätzung des ukrainischen Widerstandes, auch die westlichen Militär- und zivilen Geheimdienste haben ihren Regierungen offensichtlich falsche Einschätzungen der Kräfteverhältnisse geliefert.
Bei aller Kritik und Bedauern über die genannten Fehler in der Zeit von 2007 bis 2022 haben die Handlungen und vor allem die unterlassenen Handlungen bewiesen, dass der Westen nicht aktiv an einer starken Ukraine gearbeitet oder auf raffinierte Art Geopolitik getrieben hat. Eindeutig ist ausschließlich der Freiheits- und Selbstbestimmungswille der großen Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, welcher die Geschichte bestimmt hat.
Frieden ohne Freiheit kann nicht das Ziel sein.
Die Ukrainer wollen seit Jahrzehnten näher an die EU. Sicher auch aus wirtschaftlichen, aber vor allem aus innenpolitischen Gründen. Die Ukrainer wollen in einem Land leben, welches ihnen den gleichen rechtsstaatlichen Rahmen liefert wie die EU. Geopolitisch haben sie immer auf Russland geachtet, so wie heranwachsende Jugendliche darauf achten, jähzornige Eltern nicht zu provozieren.
In Westeuropa leben wir seit 1945 in Frieden und aber vor allem in Freiheit. Die Freiheit, unsere Meinungen zu sagen, unsere Staatsabkommen zu schließen, unterschiedliche Parteien zu wählen, Wirtschaftsfreiheit und soziale Freiheiten. Wir sollten nicht vergessen, wie wertvoll das ist. Die Ukrainer streben die gleichen Freiheiten an und es ist deswegen auch für viele unverständlich, wenn Einzelne im Westen nach sofortigem Frieden rufen, ohne gleichzeitig Frieden für eine freie Ukraine zu fordern. Frieden ohne Freiheit kann nicht das Ziel sein.
Der Wunsch, in Freiheit zu leben
Der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Invasion wurde begleitet von einer enormen Welle von Solidarität und Hilfsbereitschaft der europäischen Zivilgesellschaft. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat man eine solche breite und spontane Solidarität nicht mehr gesehen. Vielleicht war es auch die Haltung ihrer Wähler, welche die europäischen Politiker nach langem Hin und Her dazu bewogen hat, der Ukraine im Sommer den Status eines Beitrittskandidaten zu verleihen. Ein großer Schritt, für den die Ukraine sehr dankbar ist.
Die Fehler, die zum Ukraine-Krieg geführt haben, waren vermeidbar.
Bei den obligatorischen Feierlichkeiten zum Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs oder bei den Erinnerungszeremonien der Kriegsopfer wird immer wieder heraufbeschworen, dass wir die Vergangenheit nicht vergessen dürfen. Das stimmt natürlich. Aber viel mehr noch muss man dementsprechend handeln. Die Fehler, die zum Ukraine-Krieg geführt haben, waren vermeidbar.
Moralisch verantwortliches Handeln ist weiterhin gefordert: von jedem, jeden Tag. Sich die Zeit nehmen und den Unterschied zwischen Gut und Böse zu verstehen und dementsprechend zu handeln. Es sind viele kleine verantwortungsvolle Entscheidungen, die es uns allen erlauben, in Freiheit zu leben.
* Der Autor ist seit 1995 Honorarkonsul der Ukraine in Luxemburg.
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