Die große Eisschmelze
Die große Eisschmelze
Von Thomas Spang (Washington)
Wenn sich in der „Tschuktschensee“ vor Alaska die Herbststürme ankündigen, hoffen die Ureinwohner von Shishmaref auf das Beste. Viel mehr bleibt den Inupiat nicht übrig, weil die US-Regierung hartnäckig deren Wunsch ignoriert, ihre Häuser auf das Festland umzusiedeln. Die 600 Inselbewohner hatten 2001 und 2016 mehrheitlich dafür gestimmt, seit der Klimawandel ein Leben auf der vorgelagerten Insel nördlich der Beringstraße zu einem nicht kalkulierbaren Risiko macht.
Weil das arktische Meer immer später im Jahr zufriert, wird die Insel im Herbst nicht mehr durch die Eisschicht geschützt. Die Stürme peitschen dann meterhohe Wellen an Land, die Shishmaref Stück für Stück im Meer verschwinden lassen. Vergangenen November spülte das Wasser die Verbindungsstraße weg, die das Dorf mit einer Lagune verbunden hatte, auf der die Inupiat ihren Müll entsorgen.
Keinen Präzedenzfall schaffen
„Geld fließt erst, wenn es zu einer Katastrophe kommt“, sagt Sally Russell Cox, die im Auftrag des Staates Alaska Shishmaref hilft, Pläne für die Umsiedlung zu entwickeln. Vorangekommen ist auf Shishmaref in der Praxis nicht viel. Wie auch nicht in den benachbarten Gemeinden von Shaktoolik, Newtok, Kivalina sowie den übrigen 27 Orten an der Nordwestküste Alaskas, deren Existenz laut eines Berichts des Rechnungshofs des US-Kongresses durch den Klimawandel bedroht ist.
Bei den Betroffenen besteht der Verdacht, dass kein Präzedenzfall für rund 3,7 Millionen Menschen geschaffen werden soll, die in Regionen der USA leben, die von den steigenden Meeresspiegeln gefährdet sind. Allesamt Opfer der Erderwärmung, die nirgendwo so deutlich zu spüren ist, wie in der Arktis. Alle zehn Jahre steigen die Temperaturen hier im Schnitt um ein Grad Celsius an. Wobei durch immer größere eisfreie Wasserflächen ein Rückkoppelungseffekt entsteht, der die Erwärmung beschleunigt.
Für Klimaforscher stellt sich nicht mehr die Frage, ob das Polarmeer im Sommer einmal eisfrei sein wird, sondern nur noch, wann es so weit ist. Wobei verschiedene Studien übereinstimmend erwarten lassen, dass dieser Punkt vielleicht schon 2035, spätestens aber 2050 erreicht wird. Selbst wenn der Weltklimagipfel COP26 in Glasgow die Treibhausgas-Emissionen in kürzester Zeit verringerte, reichte dies nicht mehr, die große Eisschmelze in der Arktis zu stoppen.
Geld fließt erst, wenn es zu einer Katastrophe kommt..
Sally Russell Cox
Genauso langsam, wie die US-Regierung etwas für die Betroffenen in Alaska unternimmt, hat sie aus Sicht von Experten die geostrategischen Konsequenzen des Klimawandels im Polarkreis verschlafen. Während sich Russland und China seit Jahren aktiv auf die Öffnung neuer Schifffahrtsrouten und die Ausbeutung von Bodenschätzen vorbereiten, wachte Washington erst kürzlich auf. Genauer gesagt war es das von Ex-Präsident Donald Trump geäußerte Interesse, Grönland zu kaufen, das die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf die Region lenkte.
Sowohl die Nordostpassage, die vor der arktischen Küste Russlands verläuft, als auch die Nordwestpassage entlang der kanadischen Küste, versprechen die Handelswege von Asien nach Europa drastisch zu verkürzen. Was die Begehrlichkeiten Chinas erklärt, die neue Polarroute zum Teil ihrer neuen Seidenstraße zu machen.
Damit Container-Schiffe sicher durch das Eismeer fahren können, benötigen sie weiterhin Eisbrecher. Die USA hängen hier soweit hinterher, dass sie im vergangenen Jahr Manöver der Küstenwache absagen mussten, weil einer ihrer insgesamt fünf Eisbrecher ausfiel.
China versucht sich in Grönland den Zugriff auf die Ausbeutung seltener Erden und Metalle zu sichern, während Russland, die USA und Kanada auf leichteren Zugang und Transport von Erdöl und Gas hoffen. Laut der „United States Geological Survey“ dürften unter dem schmelzenden Eis der Arktis ein Viertel der noch unentdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen der Welt schlummern. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Westsibirischen Becken, dem östlichen Barentsbecken und dem arktischen Alaska.
Keine Militarisierung riskieren
Die Konfliktpotenziale zwischen den Großmächten liegen auf der Hand. Womit dem Arktischen Rat eine neue Bedeutung zukommt. Diesem gehören neben Island, Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen und Kanada auch die Vereinigten Staaten und Russland an. China hat Beobachterstatus. Bei dem jüngsten Treffen im Mai warnte US-Außenminister Antony Blinken in Reykjavík vor der Gefahr einer militärischen Aufrüstung am Nordpol. „Wir müssen eine Militarisierung der Region verhindern.“
Blinken äußerte die Sorge, dass verstärkte militärische Aktivitäten in der Arktis die „Gefahr von Zwischenfällen“ erhöhten und das „gemeinsame Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Zukunft der Region“ gefährdeten. Damit kommt die NATO auf den Plan und auch die Europäische Union versucht, eine eigene Strategie für die Region zu entwickeln.
Der erste Klimatote
Während Washington nun mit massiven Investitionen ihre Flotte wieder aufbaut und ihre U-Boot-Aktivitäten im Nordmeer verstärkt, warten die Inupiat von Shishmaref und den anderen gefährdeten Orten in Alaska weiter vergeblich auf Hilfe. Das Weiße Kreuz hinter der mit verblichenen Seidenblumen bedeckten Grabstelle auf dem Friedhof von Shishmaref erinnert an den Preis der Untätigkeit.
Hier ruht Norman Kokoeok, der vermutlich erste Klimatote von Alaska. Der 25-jährige kam am 2. Juni 2007 bei der Entenjagd mit seinem Freund ums Leben. Sein Schneemobil brach auf dem Eis ein, das wegen der Erderwärmung für die Jahreszeit viel zu dünn war.
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