Die Angst vor der sozialen Explosion wächst
Die Angst vor der sozialen Explosion wächst
Von Christine Longin (Paris)
Der Pariser Place de la Concorde lag am Donnerstagabend unter einer dicken Wolke aus Rauch und Tränengas. Barrikaden und Müllberge brannten rund um den Platz, den 10.000 Demonstrierende spontan besetzten, nachdem Präsident Emmanuel Macron für seine Rentenreform auf ein Parlamentsvotum verzichtet hatte. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die Protestierenden ein, die die Beamten mit Wurfgeschossen bewarfen. Ähnliche Szenen spielten sich in Marseille, Rennes und Nantes ab.
Die spontanen Proteste dürften nun die Bewegung gegen die Rentenreform radikalisieren. Denn die Aktivierung des Verfassungsartikels 49.3, mit dem Macron kurz vor dem angesetzten Votum die Nationalversammlung überging, facht die Wut der Demonstrierenden an. „Der 49.3 ist die schlechteste Lösung, diejenige, die uns zur sozialen Explosion bringen kann“, warnte Cyril Chabanier von der Gewerkschaft CFTC in der Zeitung „Le Monde“.
Zunehmende Radikalisierung
Die Gewerkschaften, die bisher geschlossen gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre auftraten, haben für Donnerstag einen neuen Streik- und Protesttag angekündigt. Sie hatten bisher für einen friedlichen Ablauf gesorgt, fürchten nun aber, die Kontrolle zu verlieren. In einigen Städten übernahmen bereits radikale Kräfte innerhalb der kommunistisch geprägten Gewerkschaft CGT die Führungsrolle. So besetzten in Bordeaux am Freitag hunderte Demonstrierende mit roten CGT-Fahnen die Gleise des Hauptbahnhofs. In Paris wurde die Stadtautobahn kurzzeitig blockiert.
Die Opposition ist legitim, die Demonstrationen sind legitim, aber die Stiftung von Chaos ist es nicht.
Innenminister Gérald Darmanin
Die Fraktionschefin von Macrons Partei Renaissance, Aurore Bergé, forderte eine schärfere Bewachung der Abgeordneten, da deren Wahlkreisvertretungen oder Wohnungen zum Ziel der Proteste werden könnten. Innenminister Gérald Darmanin kündigte an, hart gegen Gewalttäter vorzugehen. „Die Opposition ist legitim, die Demonstrationen sind legitim, aber die Stiftung von Chaos ist es nicht“, sagte der 40-Jährige, dem Ambitionen auf Macrons Nachfolge nachgesagt werden, in einem Radiointerview.
Parallel zu den Protesten auf der Straße brachte die kleine Zentrumspartei Liot in der Nationalversammlung einen parteiübergreifenden Misstrauensantrag gegen die Regierung ein, dem sich das Linksbündnis Nupes anschloss. Ein weiterer Antrag wurde vom rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) eingereicht, dessen Fraktionschefin Marine Le Pen allerdings ankündigte, auch andere Anträge zu unterstützen.
Über beide Texte soll voraussichtlich am Montag abgestimmt werden. Nupes, RN und Liot kommen allerdings nur auf 262 der für einen Erfolg nötigen 287 Stimmen. Es wären also zahlreiche Stimmen der konservativen Républicains nötig, deren Chef Eric Ciotti am Donnerstagabend ankündigte, dass seine Partei für keinen der Anträge stimmen werde.
Mögliche Neuwahlen
Doch selbst wenn die Opposition scheitert, dürfte Regierungschefin Elisabeth Borne nächste Woche zurücktreten. Ihr Name ist eng mit der Rentenreform verknüpft, die sie in den vergangenen Monaten mit Opposition und Gewerkschaften verhandelte. Die Tatsache, dass sie die Reform nicht zur Abstimmung stellen konnte, weil sie nicht genug Stimmen dafür zusammen bekam, bedeutet für sie ein Scheitern.
Eine Regierungsumbildung, die mit Bornes Rücktritt verbunden wäre, würde Macron einen Neuanfang ermöglichen. Allerdings hatte der Präsident schon nach den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr Schwierigkeiten, das Personal für sein Kabinett zusammenzubekommen. Einige seiner Mitstreiter wie der frühere Innenminister Christophe Castaner verloren ihr Parlamentsmandat. Andere zogen sich aus der Politik zurück.
Für Macron stellt sich ohnehin die Frage, ob er nach seinem brutalen Manöver bei der Rentenreform noch weiter reformieren kann. Erste Stimmen fordern bereits Neuwahlen, um dem Präsidenten neue Legitimität zu geben. Umfragen zeigen allerdings, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung dadurch nicht grundlegend ändern dürften.
Folgen Sie uns auf Facebook, Twitter und Instagram und abonnieren Sie unseren Newsletter.
Als Abonnent wissen Sie mehr
In der heutigen schnelllebigen Zeit besteht ein großer Bedarf an zuverlässigen Informationen. Fakten, keine Gerüchte, zugänglich und klar formuliert. Unsere Journalisten halten Sie über die neuesten Nachrichten auf dem Laufenden, stellen politischen Entscheidern kritische Fragen und liefern Ihnen relevante Hintergrundgeschichten.
Als Abonnent haben Sie vollen Zugriff auf alle unsere Artikel, Analysen und Videos. Wählen Sie jetzt das Angebot, das zu Ihnen passt.
