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Die Angst vor der sozialen Explosion wächst
International 3 Min. 17.03.2023
Frankreich

Die Angst vor der sozialen Explosion wächst

Im Zentrum der Hauptstadt Paris ist es am Donnerstagabend auf dem Place de la Concorde zu Ausschreitungen gekommen. Mindestens 217 Menschen wurden von der Polizei festgenommen.
Frankreich

Die Angst vor der sozialen Explosion wächst

Im Zentrum der Hauptstadt Paris ist es am Donnerstagabend auf dem Place de la Concorde zu Ausschreitungen gekommen. Mindestens 217 Menschen wurden von der Polizei festgenommen.
Foto: AFP
International 3 Min. 17.03.2023
Frankreich

Die Angst vor der sozialen Explosion wächst

Nach der Umgehung des Parlaments bei der Rentenreform werden die Proteste gewalttätiger. In der Nationalversammlung wird nächste Woche über zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung abgestimmt.

Von Christine Longin (Paris)

Der Pariser Place de la Concorde lag am Donnerstagabend unter einer dicken Wolke aus Rauch und Tränengas. Barrikaden und Müllberge brannten rund um den Platz, den 10.000 Demonstrierende spontan besetzten, nachdem Präsident Emmanuel Macron für seine Rentenreform auf ein Parlamentsvotum verzichtet hatte. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen die Protestierenden ein, die die Beamten mit Wurfgeschossen bewarfen. Ähnliche Szenen spielten sich in Marseille, Rennes und Nantes ab. 

Die spontanen Proteste dürften nun die Bewegung gegen die Rentenreform radikalisieren. Denn die Aktivierung des Verfassungsartikels 49.3, mit dem Macron kurz vor dem angesetzten Votum die Nationalversammlung überging, facht die Wut der Demonstrierenden an. „Der 49.3 ist die schlechteste Lösung, diejenige, die uns zur sozialen Explosion bringen kann“, warnte Cyril Chabanier von der Gewerkschaft CFTC in der Zeitung „Le Monde“.


France, Paris, 2023-03-16. Overflow in the streets of Paris against pension reform, following Elizabeth Borne s appeal to 49.3 for pension reform. Photograph by Claire Serie / Hans Lucas.
France, Paris, 2023-03-16. Debordement dans les rues de Paris contre la reforme des retraites, suite au recours d Elizabeth Borne au 49.3 pour la reforme des retraites. Photographie de Claire Serie / Hans Lucas.
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Mit einem Machtmittel hat Frankreichs Regierung die Rentenreform durchgeboxt. Die Proteste gegen das Vorhaben von Präsident Macron dauern an.

Zunehmende Radikalisierung

Die Gewerkschaften, die bisher geschlossen gegen die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre auftraten, haben für Donnerstag einen neuen Streik- und Protesttag angekündigt. Sie hatten bisher für einen friedlichen Ablauf gesorgt, fürchten nun aber, die Kontrolle zu verlieren. In einigen Städten übernahmen bereits radikale Kräfte innerhalb der kommunistisch geprägten Gewerkschaft CGT die Führungsrolle. So besetzten in Bordeaux am Freitag hunderte Demonstrierende mit roten CGT-Fahnen die Gleise des Hauptbahnhofs. In Paris wurde die Stadtautobahn kurzzeitig blockiert.

Die Opposition ist legitim, die Demonstrationen sind legitim, aber die Stiftung von Chaos ist es nicht.

Innenminister Gérald Darmanin

Die Fraktionschefin von Macrons Partei Renaissance, Aurore Bergé, forderte eine schärfere Bewachung der Abgeordneten, da deren Wahlkreisvertretungen oder Wohnungen zum Ziel der Proteste werden könnten. Innenminister Gérald Darmanin kündigte an, hart gegen Gewalttäter vorzugehen. „Die Opposition ist legitim, die Demonstrationen sind legitim, aber die Stiftung von Chaos ist es nicht“, sagte der 40-Jährige, dem Ambitionen auf Macrons Nachfolge nachgesagt werden, in einem Radiointerview.

Insider gehen davon aus, dass Regierungschefin Elizabeth Borne nächste Woche zurücktreten wird. Ihr Name ist eng mit der Rentenreform verbunden.
Insider gehen davon aus, dass Regierungschefin Elizabeth Borne nächste Woche zurücktreten wird. Ihr Name ist eng mit der Rentenreform verbunden.
Foto: AFP

Parallel zu den Protesten auf der Straße brachte die kleine Zentrumspartei Liot in der Nationalversammlung einen parteiübergreifenden Misstrauensantrag gegen die Regierung ein, dem sich das Linksbündnis Nupes anschloss. Ein weiterer Antrag wurde vom rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) eingereicht, dessen Fraktionschefin Marine Le Pen allerdings ankündigte, auch andere Anträge zu unterstützen. 

Über beide Texte soll voraussichtlich am Montag abgestimmt werden. Nupes, RN und Liot kommen allerdings nur auf 262 der für einen Erfolg nötigen 287 Stimmen. Es wären also zahlreiche Stimmen der konservativen Républicains nötig, deren Chef Eric Ciotti am Donnerstagabend ankündigte, dass seine Partei für keinen der Anträge stimmen werde.

Mögliche Neuwahlen

Doch selbst wenn die Opposition scheitert, dürfte Regierungschefin Elisabeth Borne nächste Woche zurücktreten. Ihr Name ist eng mit der Rentenreform verknüpft, die sie in den vergangenen Monaten mit Opposition und Gewerkschaften verhandelte. Die Tatsache, dass sie die Reform nicht zur Abstimmung stellen konnte, weil sie nicht genug Stimmen dafür zusammen bekam, bedeutet für sie ein Scheitern.


France, Mouans-Sartoux, 2022-10-09. Portrait of the sociologist, publisher, French politician and media man Jean Viard during the 35th Festival du Livre. Photograph by Eric Dervaux / Hans Lucas. France, Mouans-Sartoux, 2022-10-09. Portrait du sociologue, editeur, homme politique francais et homme mediatique Jean Viard lors du 35e Festival du Livre. Photographie de Eric Dervaux / Hans Lucas. (Photo by Eric Dervaux / Hans Lucas / Hans Lucas via AFP)
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Eine Regierungsumbildung, die mit Bornes Rücktritt verbunden wäre, würde Macron einen Neuanfang ermöglichen. Allerdings hatte der Präsident schon nach den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr Schwierigkeiten, das Personal für sein Kabinett zusammenzubekommen. Einige seiner Mitstreiter wie der frühere Innenminister Christophe Castaner verloren ihr Parlamentsmandat. Andere zogen sich aus der Politik zurück. 

Für Macron stellt sich ohnehin die Frage, ob er nach seinem brutalen Manöver bei der Rentenreform noch weiter reformieren kann. Erste Stimmen fordern bereits Neuwahlen, um dem Präsidenten neue Legitimität zu geben. Umfragen zeigen allerdings, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung dadurch nicht grundlegend ändern dürften.

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