Deutschland braucht Fachkräfte - auch für gute Arbeit
Deutschland braucht Fachkräfte - auch für gute Arbeit
Von Cornelie Barthelme *
In den deutschen Krankenhäusern fehlen die Ärztinnen und die Krankenschwestern. In den Kindergärten fehlen die Erzieher und in den Schulen die Lehrer. In den Altenheimen die Pfleger, in den Bussen die Fahrerinnen, in den Lokomotiven die Lokführerinnen und in den Zügen die Zugbegleiter …
Ach, und bei den Handwerkern fehlt’s überall. Wer den Klempner bestellt, kann lange warten. Die Politik in Berlin nennt das „Fachkräftemangel“, die Wirtschaft sagt, wenn die Politik nicht bald etwas dagegen tut, dann wird es finster in Deutschland. Die Bundesregierung redet von „Fachkräfteeinwanderung“ und verspricht Programme dafür, die Opposition, konkret: Friedrich Merz von der Union, rechnet lieber die aktuelle Zahl der Arbeitslosen - 2,62 Millionen im Februar - gegen die Zahl der offenen Jobs, im selben Zeitraum exakt 778.004. Daraus schließt der Mann, der möglichst bald ins Kanzleramt einziehen will, dass der Fachkräftemangel ein Märchen ist. Man kann, umgekehrt, aus dieser Milchmädchenrechnung auch schließen, dass Merz keine Fachkraft ist in Sachen Arbeit im 21. Jahrhundert.
Möglicherweise hat das damit zu tun, dass er, Geburtsjahrgang 1955, mindestens arbeitsmäßig feststeckt im 20. Jahrhundert. In dessen zweiter Hälfte lebte Deutschland erst von der Wiederaufbauleistung der Kriegsgeneration - die bis heute „Wunder“ genannt wird, mit „Wirtschaft“ davor - und dann von deren Mythos. Dabei war der Nachkriegsaufschwung weder Hexen- noch Gotteswerk: Das Land lag in Schutt, es gab erst jede Menge wieder aufzubauen und dann mindestens so viel nachzuholen; auch an Selbstwert und Selbstbewusstsein.
Ein Disput über Arbeit ist überfällig
Und im Materiellen wie im Mentalen haben die Deutschen ganze Arbeit geleistet; woraus eben jene Legende entstand, die gerade erst wieder der oberste Lobbyist der Arbeitgeber, BDA-Präsident Steffen Kampeter, in einem langen Interview referiert hat: Alles sei gut in Deutschland, wenn die Deutschen und sonst hier Lebenden nur genug „Bock auf Arbeit“ hätten. Kampeters Überzeugung: Haben sie leider nicht, je jünger, umso weniger. Allenfalls die Babyboomer - zu denen er selbst auch gehört - seien noch fleißig in ausreichendem Maß. Aber die Politiker trauten sich nicht, den Jungen ins Gewissen zu reden nach der Devise: „Deutschland kann nur besser und stärker werden, wenn wir hart und länger arbeiten.“ Nur zur Erinnerung: In Deutschland gilt ab kommendem Jahr die Rente mit 67 voll, Frankreich läuft gerade wegen der Rente mit 64 auf einen Generalstreik zu.
Womit Kampeter recht hat: Ein Disput über Arbeit, wie sie ist im Jahr 2023 und wie sie aber sein sollte, jetzt und künftig - ein solcher Disput ist überfällig. Beginn bei Erwerbs- und Familienarbeit - und warum letztere in der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt noch immer unbezahlt ist. Im Mittelpunkt angemessene Löhne und Gehälter in allen Berufen - alle in Großbuchstaben, was für viele mehr und für einige auch deutlich weniger bedeuten muss. Schluss bei der Frage, wann endlich die Rente, samt Beamtenpensionen, der deutschen Realität angepasst wird. Die ganz schlicht ist: Nicht jeder will bis 67 arbeiten - nicht jeder schon mit 67 aufhören damit.
Aus Kampeters Worten weht die „Maloche“ - und prallt auf die „Work-Life-Balance“, das Gleichgewicht also von Arbeiten und Leben. Ein Begriff, der schon deshalb erschrecken sollte, weil er bedeutet, dass in der Arbeit kein Leben möglich ist und beim Leben keine Arbeit. Natürlich ist das Quatsch. Erschöpfendes Arbeiten kann erfüllend sein und eine 50-Stunden-Woche lustvoll — wenn man es will. Wer aber schuften muss, MUSS in Großbuchstaben, wer zwei bis drei Jobs braucht, um durchzukommen, wer sich mit Applaus zufriedengeben soll anstatt angemessener Bezahlung wie zu Beginn der Pandemie alle in der Gesundheits- und Pflegebranche, inzwischen gibt es dort längst wieder weder angemessenes Geld noch Beifall: Der und die träumt nicht einmal von solcher Balance. Und auch nicht, wer für sich entscheidet, dass Karriere zweit- bis fünftrangig ist - nur andersherum.
Erschöpfendes Arbeiten kann erfüllend sein und eine 50-Stunden-Woche lustvoll — wenn man es will.
Das Arbeitsleben - kein Vorgänger der Work-Life-Balance, obwohl es so klingt - ist vielgestaltiger denn je; Deutschland ist ein freies Land. Und ja: Nicht jeder kann und will mit der Fülle von Möglichkeiten schöpferisch und verantwortungsvoll umgehen. Das allerdings gilt für die von Steffen Kampeter vertretenen Arbeitgeber ebenso. Der Politik darf die deutsche Gesellschaft das Thema schon gar nicht überlassen. Sonst verengt sich die Diskussion auf das stur angebetete Wachstum. Und auf Bezahlbarkeit. Und vor allem die Frauen, die gerade so unbedingt arbeiten sollen - Fachkräftemangel! - hetzen noch 50 Jahre hin und her zwischen Familie und Arbeitsplatz.
Im Koalitionsvertrag der Ampel, übrigens, ist ein „gesellschaftlicher Dialogprozess“ versprochen. Zur Arbeit an sich? Von wegen! Allein zum Renteneintritt. Was sonst?
* Die Autorin ist Deutschland-Korrespondentin des „Luxemburger Wort“.
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