Der Vatikan gibt seine Geheimdokumente zur NS-Zeit frei
Der Vatikan gibt seine Geheimdokumente zur NS-Zeit frei
(dpa/KNA/mer) Mehr als sechs Jahrzehnte hat der Vatikan ein großes Geheimnis aus den Akten über die Zeit von Papst Pius XII. (1876 - 1958, Papst seit 1939) gemacht. Mehr als 60 Jahre nach dessen Tod hat der Vatikan nun seine Archive aus der Zeit des historisch umstrittenen Pontifex geöffnet. Die ersten Forscher gingen am Montagmorgen in das Apostolische Archiv des Kirchenstaates, um dort ihre Arbeit zu beginnen. Wissenschaftler aus aller Welt hatten die Freigabe lange gefordert.
In die Zeit von Pius XII. ab 1939 bis zu seinem Tod 1958 fallen entscheidende Abschnitte der jüngeren Weltgeschichte: die Nazi-Herrschaft, der Zweite Weltkrieg und der Beginn des Ost-West-Konflikts. "Es ist das wichtigste, noch immer geschlossene Holocaust-Archiv der Welt", sagt Suzanne Brown-Fleming, eine von fünf Wissenschaftlern vom Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten in Washington, die Zugang zu den Beständen erhalten sollen. Zunächst reiste sie aber wegen der Coronavirus-Krise kurzfristig aus Rom ab. Die Recherche des Teams sei auf später verschoben, sagte sie.
Datum der Öffnung ist der 81. Jahrestag der Papstwahl von Eugenio Pacelli, zugleich sein 144. Geburtstag. Üblicherweise würden die Archive erst am 10. Oktober 2027 geöffnet, 70 Jahre nach dem Tod des Papstes. Aber genau wegen der Themen NS-Zeit und Judenverfolgung hatte bereits Johannes Paul II. 2003 verfügt, die Archive Pius' XI. (1922-1939) eher zu öffnen.
Papst Franziskus hatte die Öffnung im März 2019 angekündigt. Da es nur eine begrenzte Zahl von Leseplätzen für die Forscher gibt, mussten sie sich anmelden. Mehrere Dutzend dürfen gleich ab Montag loslegen und mit der Sichtung beginnen. Andere müssen sich für ihren Zugang noch gedulden.
Wir müssen offen sein für das, was die Dokumente uns sagen werden.
Sie alle erwarten Fotos, persönliche Briefe, offizielle Telegramme, Redeentwürfe. Selbst in Wortmarkierungen oder kleinen Streichungen bei einer Rede können Botschaften stecken. "Vielleicht gibt es eine Anweisung, die Papst Pius XII. im September 1943 gegeben hat, die besagt, dass Juden auf vatikanischem Boden versteckt werden sollen. Wir haben so eine Anweisung nie gesehen. Es ist eine der offenen Fragen", erläutert Brown-Fleming. "Wir müssen offen sein für das, was die Dokumente uns sagen werden."
Wegen des bisher fehlenden Einblicks in die Unterlagen seines Pontifikats hänge die Beurteilung von Pius XII. in der Luft, macht Brown-Fleming bei einem Gespräch vor ihrer Abreise deutlich. Die einen sagten, er habe Hunderttausende verfolgte Juden gerettet. Ein Verfahren zur Seligsprechung läuft seit langem. "Dann haben wir Literatur über die andere Seite: Dass er ein Nazi-Sympathisant war - was er sicher nicht war", ist Brown-Fleming überzeugt. "Ich denke, was wir herausfinden werden, liegt vielmehr in der Mitte."
Zu den Dokumenten, die nun zugänglich sind, zählt auch die Korrespondenz während der Kriegszeit zwischen dem Vatikan und seiner deutschen Vertretung, der Nuntiatur in Berlin, sowie mit dem deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl. Papst Pius XII., mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli, kannte diese Nuntiatur gut: Von 1917 bis 1929 war der fließend deutsch sprechende Geistliche, nach dem die Straße am Trierer Moselufer benannt ist, der vatikanische Gesandte zunächst in München, dann in Berlin gewesen.
Eine der großen Fragen der Weltgeschichte, die auch viele andere umtreibt, lautet, warum der italienische Papst die Nazi-Verbrechen nicht öffentlich angeprangert hatte. Und ob es stimmt, dass er nicht daran glaubte, dass das Öffentlichmachen den Opfern helfen würde. Kritiker raten der katholischen Kirche daher, den Prozess der Seligsprechung bis zur Klärung ruhen zu lassen.
„Mit brennender Sorge“
Der langjährige Diplomat Pacelli wurde 1930 Kardinalstaatssekretär. Als solcher verhandelte er das sogenannte Reichskonkordat von 1933, einen Staatskirchenvertrag mit dem Deutschen Reich. Darin wurden der katholischen Kirche bestimmte Privilegien wie die Kirchensteuer oder die Beibehaltung des Religionsunterrichts zugesichert; im Gegenzug durften sich geistliche nicht mehr politisch betätigen.
In jener Zeit fuhr das Hitler-Regime eine Zeit lang einen Kuschelkurs gegenüber der Kirche. Berühmt wie berüchtigt sind etwa jene Fotos von dem katholischen Großereignis von 1933: Bei der Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt wurden die mehr als zwei Millionen Pilger von SA-Verbänden empfangen.
Doch die Vereinbarung hielt die Nazis nicht lange davon ab, katholische Jugendverbände zu schikanieren und Übergriffe zu tätigen. Pacelli wirkte daher an der 1937 erschienenen Enzyklika "Mit brennender Sorge" mit, die in deutlichen Worten auf die bedrängte Lage der Katholiken im Reich aufmerksam machte.
Zwei Jahre später wurde Pacelli Papst. Als Kirchenoberhaupt blieb er ein Diplomat: Abwartend, abwägend - zögerlicher als sein kämpferischer Vorgänger Pius XI. Zu ähnlich flammenden Appellen oder öffentlichen Protestnoten gegen die immer unmenschlichere Behandlung der Juden, die schließlich in den Massenmord führten, konnte sich Pius XII. nicht durchringen.
War es die Hoffnung, durch diskrete Diplomatie mehr für die Juden tun zu können als durch lauten Protest? Oder war es fehlende Courage?
Eine wirklich verantwortungsbewusst überarbeitete Biographie von Pius XII. erwarten wir frühestens in drei bis fünf Jahren.
Brown-Fleming erwartet, dass die Erforschung der Archive im Laufe der nächsten sechs Monate immer wieder für Nachrichten sorgen wird. Es würden dann vermutlich einzelne Dokumente als Fakten präsentiert. Doch sie mahnt zur Geduld: In einer Welt, die nach sofortiger Befriedigung suche, wolle jeder schnelle Antworten. "Aber die kollektive, wirklich solide Arbeit wird Jahre dauern. Eine wirklich verantwortungsbewusst überarbeitete Biografie von Pius XII. erwarten wir frühestens in drei bis fünf Jahren."
Auch der deutsche Kirchenhistoriker und Priester Hubert Wolf rechnet damit, dass erst der Vergleich unterschiedlicher Einzelfunde ein Gesamturteil ermöglicht. Der Münsteraner Professor will ebenfalls selbst in Rom Dokumente einsehen.
Er dürfte dabei wohl auch auf Material stoßen, das Johan Ickx, Archivar des vatikanischen Staatssekretariats, schon kennt. Der Belgier hat die Öffnung im Vatikan mit vorbereitet. So wurden massenweise Dokumente digitalisiert, beschriftet, neu geordnet, wie er in Rom erzählt. Und auch er denkt bei dem Ziel, fundiertes Wissen zu erlangen, eher in Jahren als in Tagen oder Monaten.
Was trotzdem jetzt schon feststeht: Wenn die ersten Wissenschaftler den Leseraum im Vatikan betreten, wird für viele ein beruflicher Lebenstraum wahr. "Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass das Zeit meines Lebens passieren würde. Es ist ein einmaliger, komplett einzigartiger Moment", sagt Suzanne Brown-Fleming. "Wir wollen alle die Wahrheit finden."
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