Der Ukraine-Konflikt – eine kritische Zwischenbilanz
Der Ukraine-Konflikt – eine kritische Zwischenbilanz
Von Armand Clesse*
Es gibt seltsamerweise eine Art von Beinahe-Konsens unter westlichen Politikern und Experten, der heißt: „Der Ukraine mehr Waffen zur Verfügung stellen, bedeutet weniger Blutvergießen, weniger Zerstörung und vor allem eine schnellere Beendigung des Krieges“. Ganz auszuschließen ist diese mögliche Folge von westlichen Waffenlieferungen nicht, aber sie ist doch sehr unwahrscheinlich: Sie beruht weder auf historischen noch auf logischen noch auf empirischen Erkenntnissen. Wahrscheinlicher ist das Gegenteil, nämlich, dass mehr Waffen höhere Verluste an Menschen und Material, eine Intensivierung und Ausweitung der Kämpfe und eventuell eine qualitative Eskalation zeitigen werden.
Vielleicht werden, angesichts etwa des Ausgangs von fast allen Kriegen seit 1945, Historiker auch diesen Krieg dereinst als einen unnützen und sinnlosen einstufen.
Alles Geschehen in einem Krieg ist geprägt von Ungewissheit. So kann man trotz der hochentwickelten Aufklärungsmittel nicht einmal genaues über das sagen, was seit einem Jahr auf dem Schlachtfeld in der Ukraine passiert ist, ebenso wenig über das, was im Augenblick vor sich geht und noch weniger über mögliche weitere Entwicklungen. Man sollte also vorsichtig sein, sich zurückhalten mit Diagnosen wie mit Prognosen, denn man befindet sich hier im Reich des Ungefähren, des Unwägbaren, des Kontingenten.
Vielleicht werden, angesichts etwa des Ausgangs von fast allen Kriegen seit 1945, Historiker auch diesen Krieg dereinst als einen unnützen und sinnlosen einstufen, einen Krieg, der keiner Kriegspartei einen wirklichen Gewinn einbrachte. Dies gilt ja mehr oder weniger für alle amerikanischen Kriege – Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan, Libyen, auch wenn es bei diesen Kriegen in einer ersten Phase so ausgesehen haben mag, als würden sie für die USA Positives, zumindest auf strategischem Gebiet bewirken. Kriege sind fast immer Verlustgeschäfte für alle Beteiligten. Jedoch scheinen weder Gedächtnis noch Vernunft stark genug, um dies im Voraus zu begreifen.
Undankbar ist die Rolle des Mahners. Er gerät oft zwischen zwei Mühlsteine, wird diffamiert, in diesem Konflikt etwa als „russenfreundlich“, als „Putinversteher“ oder gar als „bezahlter Agent Moskaus“. Dabei sind Besonnenheit und Augenmaß in Kriegszeiten noch relevanter als in Friedenszeiten, sind Menschen wichtig, die sich um eine klare, unideologische, unvoreingenommene Sicht der Dinge bemühen.
Viele Europäer scheinen zu glauben, sie könnten auf Dauer sich aus der Ferne am Krieg beteiligen durch finanzielle Hilfe und Waffenlieferungen und gleichzeitig völlig unbehelligt ihr gewöhnliches Leben führen.
Die Illusionen der Europäer
Europa wiegt sich in allerlei Illusionen. Etwa die, dass man immer schwerere und weiterreichende Waffen an die Ukraine liefern könne, ohne gleichzeitig in den Krieg hineingezogen zu werden. Viele Europäer scheinen zu glauben, sie könnten auf Dauer sich aus der Ferne am Krieg beteiligen durch finanzielle Hilfe und Waffenlieferungen und gleichzeitig völlig unbehelligt ihr gewöhnliches Leben führen, höchstens etwas mehr für die Energiezufuhr bezahlen, doch all dies ohne ihren Lebensstil grundlegend ändern zu müssen. Dass sie immer näher, zwar nicht geografisch, aber politisch und vielleicht sogar militärisch an das Kriegsgeschehen heranrücken, dass die Gefahr, unmittelbar in den Krieg impliziert zu werden, ständig wächst, scheint nur wenigen bewusst.
Viele im Westen, nicht nur Politiker und Journalisten, auch sogenannte Experten, halten am Ziel eines ukrainischen Siegs als etwas Alternativlosem fest. Sie scheinen nicht begriffen zu haben, dass man eine nukleare Supermacht nicht militärisch besiegen kann, ohne gleichzeitig selbst besiegt, also vernichtet zu werden. Ein einigermaßen sinnvoller „Sieg“ des de facto-Bündnisses Ukraine-NATO wäre also nur möglich, wenn Russland sich politisch geschlagen gäbe. Eine solche Niederlage aber ist aus russischer Sicht nicht hinnehmbar.
Russland dürfte folgerichtig bereit sein, viel mehr zu opfern als der Westen. Auch ein politischer Führungswechsel in Moskau würde an dieser Tatsache nichts ändern.
Wer im Westen von einer russischen Niederlage redet, sollte bedenken, dass für Russland in diesem Konflikt in manchen Hinsichten es um viel mehr geht als für den Westen. Mit anderen Worten: Es handelt sich, betrachtet man, was auf dem Spiel steht, um einen asymmetrischen Konflikt, da es für Russland ein „existenzieller Krieg“ ist, wie sogar die dem Pentagon nahestehende Denkfabrik Rand Corporation einräumt (1). Russland dürfte folgerichtig bereit sein, viel mehr zu opfern als der Westen. Auch ein politischer Führungswechsel in Moskau würde an dieser Tatsache nichts ändern.
Schwächen und Versäumnisse
Der Ukraine-Konflikt entblößt unerbittlich die Schwächen Europas, seine Unfähigkeit, strategisch, langfristig, auch über den Krieg hinaus zu denken, also an die Lage Europas nach dem Krieg. Während der französische Präsident von der „strategischen Autonomie“ Europas träumt, haben die Europäer durch ihr Verhalten in diesem Konflikt deutlich gemacht, dass es nicht den geringsten gemeinsamen Willen zu einer solchen Unabhängigkeit gibt, dass sie sich mehr denn je den amerikanischen Prioritäten und Präferenzen unterordnen. Dabei wäre gerade in diesem Konflikt eigenständiges europäisches Denken wichtig gewesen, denn der Konflikt berührt die USA nur am Rande, während er Europa politisch, ökonomisch, sozial ins Mark trifft. Eigentlich sind die USA schon dieses Krieges überdrüssig und sie wollen sich auf das aus ihrer Sicht Vitale konzentrieren, nämlich die Rivalität mit China, das Ringen um den Status des globalen Hegemons.
Die meisten europäischen Staaten wollen jetzt massiv in die Verteidigung investieren, das zu einer Zeit, wo ihr Sozialmodell am Bröckeln ist, wo immer tiefere Risse durch die Gesellschaft gehen, immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen.
Der Konflikt berührt die USA nur am Rande, während er Europa politisch, ökonomisch, sozial ins Mark trifft.
Europa zahlt jetzt den Preis für seine Sorglosigkeit und Selbstgefälligkeit während der vielen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Statt sich zu bemühen, eine solide Sicherheitsordnung für ganz Europa zu schaffen, fuhr man fort, in bipolaren Kategorien zu denken und das westliche Militärbündnis, das ja auf kollektiver Verteidigung und damit auf der Existenz eines Antagonisten, ja eines Feindes beruht, immer näher an das russische Territorium heranzuführen.
Das schlimmste Szenario vermeiden
Jeder, der sich auch nur etwas mit Geschichte und Weltpolitik befasst, hätte erkennen müssen, dass hier irgendwann Eisen auf Eisen stoßen würde, dass Russland eine weitere Einschnürung nicht mehr hinnehmen würde. Die wenigen Stimmen, die vor dieser Entwicklung warnten, wie etwa die des „Vaters der Eindämmungsstrategie“, George Kennan (2), wurden übergangen oder gar belächelt. Sollte es für die Besonneneren unter den Europäern nicht beunruhigend sein, dass das politische und militärische Vorgehen weitgehend von russophoben Ländern wie Polen, den drei baltischen Staaten und dem stets kriegsfreudigen Großbritannien bestimmt wird?
Ist es nicht erstaunlich, wenn westeuropäische Politiker immer wieder betonen, man führe keinen Krieg gegen Russland? Eine solche Beteuerung ist blauäugig. Tatsächlich ist der Westen längst im Krieg mit Russland durch die massiven Waffenlieferungen, die militärische Beratung, die technologische Hilfe bei Aufklärung und Zielerfassung. Die Präsenz von westlichen Soldaten auf dem Kampfgebiet würde im Grunde genommen keinen wesentlichen Unterschied machen. Wie würden übrigens Kriegsroboter in diesem Zusammenhang eingestuft – als eine Art transhumane Soldaten oder als simple Maschinen?
Europa sollte daran gelegen sein, dass es nicht zu militärischen Schlägen ukrainischer Streitkräfte mit vom Westen eventuell gelieferten Waffen – Kampfjets, Langstreckenraketen, Marschflugkörpern, U-Booten – gegen strategische Ziele auf russischem Boden kommt, denn in dem Fall würde Russland zweifelsohne seinen bisher geübten Verzicht, Ziele auf NATO-Gebiet anzugreifen, aufgeben.
Bislang können sich die vorsichtigen Ansätze zu einer Deeskalation als möglicher Bedingung eines Waffenstillstands nicht durchsetzen.
Der Westen wirkt in diesem Krieg wie geistig gelähmt, wie ein Akteur, der schlafwandlerisch von Stufe zu Stufe stolpert. Zwar hat man manchmal den Eindruck, dass zumindest auf Seiten etwa der französischen und Teilen der deutschen Regierung man sich der Gefahren einer unüberlegten Steigerung des Engagements bewusst ist und es einen gewissen politischen Willen zur rhetorischen Abrüstung und eine gewisse Gesprächsbereitschaft gibt. Doch bislang können sich diese vorsichtigen Ansätze zu einer Deeskalation als möglicher Bedingung eines Waffenstillstands nicht durchsetzen.
*Der Autor hat sich seit Beginn der Siebzigerjahre in Studium, Forschung und Lehre mit nuklearstrategischen Fragen befasst.
1) Studie von Januar 2023: „Avoiding a Long War“.
2) George Kennan, New York Times vom 5. Februar 1997, nannte die NATO-Erweiterung „die verhängnisvollste Entscheidung der amerikanischen Politik während des gesamten Kalten Krieges“.
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