Ceuta und Melilla, zwei Flecken Europa in Afrika
Ceuta und Melilla, zwei Flecken Europa in Afrika
Von Martin Dahms (Madrid)
Als Marokko Mitte Mai Tausende Landsleute nach Ceuta herüberschwimmen ließ, ohne dass recht klar war, zu welchem Zweck, fand auch Carles Puigdemont im fernen Waterloo, dass er sich zu der Sache äußern sollte. Der katalanische Europaabgeordnete und frühere Regionalpräsident twitterte: „Ich hoffe, dass sich die EU nicht von der spanischen nationalistischen Entflammung anstecken lässt. Ceuta und Melilla sind zwei afrikanische Städte, die nur aufgrund einer kolonialen Vergangenheit, die es den Europäern ermöglichte, Besitzungen außerhalb Europas zu besitzen, Teil der EU sind.“
Das war nicht schön formuliert, aber doch eine klare Aussage. In einem zweiten Tweet präzisierte er sie: „Marokko hat das Recht, die Souveränitätsfrage zu stellen, und es wäre notwendig, einen Dialogtisch zu schaffen, um den Konflikt zu lösen.“
Hat Puigdemont Recht? Gibt es einen Konflikt um Ceuta und Melilla? Wahrscheinlich ja, einen kleinen. Keinen, der die Welt besorgen müsste, aber doch einen, der eine Erklärung verdient. Im Dezember sagte der marokkanische Ministerpräsident Saadeddine Othmani in einem Fernsehinterview, Ceuta und Melilla seien „so marokkanisch wie die Westsahara“. Das haben die Marokkaner schon immer so gesehen. Zehn Jahre zuvor hatte sich der damalige Wirtschafts- und spätere Außenminister Salaheddine Mezouar in einem Gespräch mit der spanischen Zeitung „Expansión“ so geäußert: „Es sind zwei marokkanische Städte, sie liegen in Marokko, Spanien weiß das, die Spanier wissen das.“ Dann sei Spanien also, hakte der Interviewer nach, der Invasor in Ceuta und Melilla? Der Minister machte eine kleine Pause. „Das sagt der Augenschein, nicht wahr?“, meinte er schließlich. Und dann: Statt von Invasion zu sprechen, sage er lieber: „Das ist die Geschichte.“
Wechselvolle Geschichte
Aus der Geschichte lernt jeder, was er will. Melilla und Ceuta sind seit Jahrhunderten spanisch, marokkanisch waren sie nie. Dafür ursprünglich phönizisch, dann römisch, dann westgotisch, schließlich maurisch, als die Mauren 711 die Iberische Halbinsel eroberten und von dort aus auch Ceuta und Melilla verwalteten. 1415 nahm Portugal Ceuta ein, sogar noch bevor es sich Madeira und die Azoren zu eigen machte. 1580 erbte Spanien die portugiesische Krone, aber 60 Jahre später erstritten sich die Portugiesen ihre Unabhängigkeit zurück – nur Ceuta wollte weiter spanisch sein und ist es seitdem geblieben. Melilla war 1497 in spanische Hände gefallen, als Abschluss der Reconquista, der Vertreibung der Mauren aus iberischen Landen. So geht die Geschichte der Welt: Sie ist eine Folge von Kriegen - und anderen Zufällen. Natürliche Staatsgrenzen gibt es nirgends, nur menschengemachte.
Marokko ist seit 1956 ein unabhängiger Staat und erhebt seitdem Anspruch auf Ceuta und Melilla, hat aber keine besseren Argumente dafür als den Blick auf die Landkarte: Da fallen die beiden spanischen Pünktchen als Fremdkörper auf. Außer Marokko (und Carles Puigdemont) findet niemand etwas daran. Die Vereinten Nationen haben eine Karte mit „Non-Self-Governing Territories“ ins Netz gestellt, das sind „Territorien, deren Völker noch keine vollständige Selbstregierung erlangt haben“. Es sind gar nicht mehr so viele, 17 insgesamt, die meisten davon kleine Karibik- und Pazifik-Inseln mit wenigen Einwohnern. Ceuta und Melilla stehen nicht auf dieser Liste, dafür aber die Westsahara, die Marokko nicht nur für sich beansprucht, sondern weitgehend besetzt hält.
Ganz in der Nähe von Ceuta, auf der anderen Mittelmeerseite, liegt Gibraltar als einziges europäisches Non-Self-Governing Territory: eine britische Kolonie seit 1704, deren Einwohner gerne Briten sind, aber nicht an den britischen Unterhauswahlen teilnehmen dürfen. Die Ceutíes und Melillenses haben dagegen als vollwertige Bürger dieselben Rechte und Pflichten wie alle anderen Spanier.
Besondere Gründe für einen Konflikt um die beiden Exklaven gäbe es nicht, wenn Marokko ihn nicht hin und wieder suchte. Zum Beispiel 2007, als König Juan Carlos und Königin Sofía den beiden autonomen Städten einen Besuch abstatteten, was die marokkanische Regierung als Provokation erachtete. Juan Carlos‘ Sohn und Nachfolger Felipe VI. hat in den sieben Jahren seiner Regentschaft ganz Spanien bereist, aber noch nicht Ceuta und Melilla. Von besonderer nationalistischer Entflammtheit kann in diesem Fall nicht die Rede sein. Im Gegenteil versucht Spanien Marokko zu besänftigen, wie es nur geht. Weil Spanien Marokko braucht: für den gemeinsamen Antiterrorkampf und als Grenzwächter.
Das Tor nach Europa
Zur Ironie der Realpolitik gehört es, dass Marokko die Grenzen zu Ceuta und Melilla nicht als marokkanische Außengrenzen betrachtet, sie aber trotzdem schwer bewacht. Das ist eine jüngere Geschichte. Vor rund dreißig Jahren entdeckten schwarzafrikanische Migranten die beiden spanischen Exklaven als Tor nach Europa für sich, aber weder Spanien noch der Rest Europas wollten dieses Tor offenhalten. 1999 zog Spanien hohe Zäune um beide Städte und hat die Grenzanlagen seitdem immer gewaltiger verstärkt. Beinahe unüberwindbar sind sie aber nur dank den Gendarmen auf der marokkanischen Seite. Mitte Mai zeigte Marokko einmal, was passiert, wenn es seinen Wachtposten verlässt: Innerhalb von 48 Stunden kamen an die 10.000 Menschen nach Ceuta geschwommen, die meisten von ihnen Marokkaner. Es sollte eine Warnung sein. Allerdings ging es gar nicht um Ceuta, sondern um die Westsahara – eine diplomatische Scharade.
Marokko fühlt sich gerade stark, weil die USA kürzlich – im Dezember – als erstes Land der Welt den marokkanischen Anspruch auf die Westsahara anerkannt haben. Einen dauerhaften Konflikt mit Spanien und dem Rest Europas dürfte das nordafrikanische Königreich trotzdem kaum suchen, schon gar nicht wegen der doch eher unbedeutenden Exklaven.
In Ceuta leben zurzeit 85.000 Menschen, etwa ebenso viele wie in Melilla. In Melilla ist mehr als die Hälfte der Einwohnerschaft marokkanischer Herkunft, in Ceuta etwas weniger als die Hälfte. Hier wie dort herrscht eher ein Nebeneinander als ein Miteinander der Kulturen. Einig sind sich aber alle darin, dass sie weiter Spanier sein wollen: Marokko bietet zurzeit das weniger attraktive Staatswesen. Bleibt die Frage, wovon die beiden Städte künftig leben werden. Ende 2019 unterband Marokko den lange sehr einträglichen Schmuggelhandel, von dem sowohl die Exklaven als auch das marokkanische Umland – allerdings zulasten der marokkanischen Gesamtwirtschaft – profitierten. Es sieht ganz danach auch, als blieben Ceuta und Melilla noch lange spanisch – und arm.
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