Brexit: Johnsons Stunde der Wahrheit kommt erst
Brexit: Johnsons Stunde der Wahrheit kommt erst
(dpa/jt) - Nach dem Brexit-Deal mit der EU muss der britische Premierminister Boris Johnson für eine Mehrheit zuhause im Parlament kämpfen. Wegen massiven Widerstands vieler Abgeordneter ist eine Mehrheit bei der Abstimmung am Samstag völlig ungewiss.
Wenn Boris Johnson keine Mehrheit im Parlament erhält, stehen wir vor einem großen Fragezeichen.
Xavier Bettel
Unterstützung bekam Johnson vom erzkonservativen Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg: „Ich bin sehr glücklich über den Deal, den Premierminister Boris Johnson mit der Europäischen Union erreicht hat“, sagte Rees-Mogg von der Regierungspartei in einer Video-Botschaft auf Twitter. Er könne dieses Abkommen mit Begeisterung empfehlen.
Auch der frühere Premier David Cameron bewertete den am Donnerstag geschlossenen Brexit-Vertrag positiv. Wäre er noch Abgeordneter, würde er für den Deal stimmen, sagte Cameron. Er rechne bei der Abstimmung mit einer Mehrheit im Parlament - auch wenn es knapp werden dürfte.
Labour und DUP dagegen
Der Brexit-Durchbruch war am Donnerstag kurz vor einem EU-Gipfel in Brüssel gelungen. Allerdings gab es in Großbritannien sogleich heftigen Widerstand gegen den ausgehandelten Brexit-Vertrag. Die oppositionelle Labour-Partei will nicht zustimmen und auch Johnsons parlamentarischer Partner, die nordirische Protestantenpartei DUP, machte seine Ablehnung deutlich.
DUP-Brexit-Experte Sammy Wilson machte in der BBC am Freitag deutlich, dass seine Fraktion geschlossen gegen Johnsons Deal stimmen wird. Der Premier muss daher hoffen, dass ihm ausreichend viele Labour-Abgeordnete gegen den Willen ihrer Parteiführung zur Hilfe kommen.
Bis zur Abstimmung am Samstag wird Johnson versuchen, möglichst viele Abgeordnete hinter dem Deal zu versammeln. Er hat im Unterhaus ohnehin keine Mehrheit und kann nur auf Unterstützung aus der Opposition hoffen. Auf Nachfrage sagte er beim EU-Gipfel nur, er sei „sehr zuversichtlich“, dass Abgeordnete aller Parteien bei näherer Prüfung des Abkommens den Nutzen einer Zustimmung erkennen könnten.
Derweil wollen die Befürworter eines zweiten Brexit-Referendums ihr Anliegen nun doch nicht mit der Abstimmung über das neue Brexit-Abkommen von Premierminister Boris Johnson am Samstag verbinden. Das machte der außenpolitische Sprecher der britischen Liberaldemokraten, Chuka Umunna, in einem BBC-Interview am Freitag deutlich.
„Der Fokus morgen wird darauf liegen, den Deal zu Fall zu bringen“, sagte Umunna. Er stellte aber in Aussicht, dass es in der kommenden Woche einen Versuch geben werde. Brexit-Gegner wollen am Samstag in einer großen Demonstration in London für eine Abkehr vom EU-Austritt werben.
Xavier Bettel: "Es gibt keinen Plan B"
"Wir wissen jetzt, wie der Plan A aussieht. Es gibt aber momentan keinen Plan B", sagte Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel am Donnerstagabend in Brüssel. Er hoffe, dass am Samstag eine positive Antwort aus London kommt. "Wenn Boris Johnson keine Mehrheit im Parlament erhält, stehen wir vor einem großen Fragezeichen." Die EU müsste dann über eine neue Frist in Sachen Brexit beraten.
"Es wäre eine extrem komplizierte Situation", sagte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, sollte der Deal am Samstag im britischen Parlament durchfallen. Er stellte sich gegen eine neuerliche Verlängerung der Austrittsfrist.
Der britische Premier will sein Land unbedingt zu Halloween, am 31. Oktober, aus der Staatengemeinschaft führen. Lange hatte er versichert, Großbritannien werde auch ohne Deal aussteigen. Ein britisches Gesetz verpflichtet ihn aber, bei der EU um Aufschub zu bitten, falls bis Samstag kein Abkommen vom Parlament gebilligt ist. In dem Fall dürften die EU-Staaten dies auch gewähren – obwohl Kommissionspräsident Juncker anderer Meinung ist.
Macron blockiert Erweiterungsdebatte
In der Nacht zum Freitag verhakten sich die Staats- und Regierungschefs im Streit um den Start von EU-Beitrittsverhandlungen mit den Balkanstaaten Nordmazedonien und Albanien. Es gebe heute keine Schlussfolgerungen, sagte der finnische Ministerpräsident Antti Rinne. Ob die Gespräche am zweiten Gipfeltag fortgesetzt werden, war zunächst unklar. Rinne erklärte, man wolle weiterreden, er sei sich aber nicht sicher, ob es noch zu einer Einigung kommen könne. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sagte hingegen, man werde bei einem späteren EU-Gipfel auf das Thema zurückkommen.
Als Hauptgrund für das Scheitern der Gespräche am Abend gilt die Position des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Paris verlangt eine grundsätzliche Reform des Beitrittsprozesses als Voraussetzung für die Zustimmung zum Start der Beitrittsverhandlung. Zudem gibt es Zweifel an den Reformfortschritten insbesondere in Albanien.
Beim zweiten Tag des EU-Gipfels stehen noch weitere Themen im Fokus: Die Staats- und Regierungschefs wollen unter anderem über die Finanzplanung von 2021 an beraten. Die Positionen sind allerdings weit auseinander. Als Nettozahler beharrt die Bundesregierung deswegen darauf, das Volumen auf 1,0 Prozent der EU-Wirtschaftsleistung zu begrenzen. Andere Staaten werben für ein deutlich höheres Budget. Große Fortschritte werden bei den Gesprächen nicht erwartet.
Erstmals kann auch die designierte Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, ihre Pläne für die kommenden fünf Jahre vorstellen. Am Morgen wollten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Kanzlerin Angela Merkel und weitere Staats- und Regierungschefs mit von der Leyen frühstücken.
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